Der
Jobcenter-Mord hat das Leben der Kollegen von Irina N. verändert. In
einer WDR-Dokumentation sprechen sie offen über ihre Ängste.Von Christoph Kleinau
Raum 4.1.15 im ehemaligen Jobcenter an der
Stresemannallee – ein Tatort. Im September 2012 wurde dort die
Sachbearbeiterin Irene N. (32) von dem arbeitslosen Ahmed S. (53)
erstochen. Danach hat kaum jemand mehr den Raum betreten, doch Blumen
vor der Tür hielten die Erinnerung an die Bluttat immer wach. "Die
Möglichkeit, dass jemand mit einem Messer bewaffnet auf einen von uns
losgehen könnte, die ist früher in unseren Köpfen nicht vorgekommen",
sagt Egon P., Sachbearbeiter im Team "Visionen 50 plus" und Kollege der
Ermordeten. Er ist froh, dass er mit dem Umzug nach dem Neubau des
Jobcenter am Hauptbahnhof die "örtliche Erinnerung" zurücklassen konnte.
Doch los lassen ihn und seine Kollegen diese Erinnerungen wohl nie.
"Das wird uns ein Leben lang begleiten", bestätigt eine Kollegin, die
damals Ersthelferin war.
Die Situation, als der Notarzt der versammelten
Belegschaft nur Stunden nach der Tat sagen musste "Wir konnten ihr nicht
mehr helfen", steht Egon P. noch vor Augen, den Satz hat er noch im
Ohr. Nun spricht er zum ersten Mal öffentlich über die Angst und das
Entsetzen, das jener Angriff auslöste. Zum Sprechen brachte ihn
Christina Zühlke (34), eine Fernseh-Journalistin. Monatelang hat sie
Egon P. und andere Kollegen für ihre Dokumentation begleitet, die nun in
der Reihe "Menschen hautnah" am Donnerstag, 13. März, ab 22.30 Uhr im
WDR gezeigt wird. Ein Beitrag, der auch der Journalistin "hautnah" ging:
"Nachdem der Film fertig war, sind die Cutterin, Kirsten Becker, und
ich in den Dom gegangen und haben eine Kerze angezündet"", sagt sie.
Ausdruck einer Verbundenheit mit einem Menschen, dem sie durch die
Interviews nahe kam, ohne Irene N. je kennengelernt zu haben.
Neusser Jobcenter-Mord: eine Chronik
"Menschen hautnah" sucht die Geschichte hinter der
Meldung, die in der Tagesschau gesendet wurde und mit der auch Zühlkes
Dokumentation "Überfall am Arbeitsplatz – Leben mit der Angst danach"
beginnt. Sie soll die Menschen zu Wort kommen lassen, die von dieser Tat
betroffen waren. Letztlich aber sei es Reporterglück gewesen, sagt
Zühlke, dass das Kamerateam so unmittelbar in Kontakt zu den engsten
Mitarbeitern von Irene N. kommen konnte.
Drei Monate lang musste sie Überzeugungsarbeit
leisten, ihr Vorhaben dem Personalrat vorstellen, vergleichbare Filme
ins Intranet des Jobcenters stellen – dann meldete sich Egon P., der
weitere Kollegen bewegen konnte, offen vor der Kamera über das zu
sprechen, was der Täter auch ihnen angetan hat. "Die Tat hat mich
richtig verletzt", sagt Ortrun J., die nicht so schnell wie Egon P.
zurück in einen "normalen" Alltag fand und sich Hilfe beim Zentrum für
Gewaltopfer holte. "Ich habe nie gedacht, dass ich jemals einen Mord an
einem Menschen erlebe, den ich kenne", sagt sie.
Zwölf Drehtage hat sich Zühlke Zeit genommen, um der
Frage nachzugehen, wie die Jobcenter-Mitarbeiter den Mord verkraften und
trotzdem weiter für ihre Kunden da sein können. Sie hat sie bei
Selbstverteidigungs-Kursen begleitet, zum Grab der Ermordeten oder bei
der Arbeit. Und sie habe selbst gestaunt, so Zühlke, "wie wenig
abweisende Bürokratie zu spüren war. Wie menschlich und respektvoll die
Mitarbeiter mit den Kunden umgehen." Trotz alledem.
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