"Ohne ihn wäre ich nicht am Leben", sagt Giacobbi. Der Mann ihm gegenüber nickt. Er heißt Wolfgang Loerke – und ist der Sohn des Retters von Giacobbis Vater. Er lebt in Münchrath, nur etwa 20 Kilometer von Düsseldorf entfernt. "Ich habe gelesen, dass der Generalkonsul diese Geschichte von meinem Vater erzählt, und dachte: Ruf doch einfach mal an." Das tat er – und nun tauschen sich die Söhne des Retters und des Geretteten aus über dieses Ereignis am 19. Mai 1943, das so viel aussagt über den Krieg, über Menschlichkeit unter Gefahr fürs eigene Leben. Eine Heldentat, die am Ende doch honoriert wurde.
Pierre Giacobbi ist an jenem Tag auf dem Rückweg von einem Besuch bei seiner Familie auf Korsika nach Aix-en-Provence, wo er Jura studiert. Er nimmt die Fähre "Général Bonaparte", die zwar unter französischer Flagge fährt, aber auch italienische Militärs an Deck hat. Deren Anwesenheit führt zu einer fatalen Fehleinschätzung bei dem Kommandanten eines britischen U-Bootes, denn Italien paktiert mit Deutschland. Die Fähre, voll mit Zivilisten, wird von den Briten als getarnter deutscher Truppentransport eingestuft – und mit Torpedos beschossen. Die Fähre sinkt, stundenlang treiben die Schiffbrüchigen im Meer. Pierre Giacobbi klammert sich an eine Holzkiste.
Konrad Loerke ist mit den beiden ehemals französischen Torpedobooten "Iphigenie" und "La Pomone" in der Nähe, hat den Angriff beobachtet und gibt das Kommando, die Schiffbrüchigen zu retten. Eine lebensgefährliche Entscheidung. Nicht nur, weil das britische U-Boot noch immer im selben Gewässer ist. "Es gab damals vom Wehrmachtshauptquartier auch den Befehl, dass Schiffbrüchige nicht gerettet werden dürfen", sagt Wolfgang Loerke. Konrad Loerke, der wenige Monate zuvor selbst in Seenot geraten und gerettet worden ist, geht das Risiko dennoch ein. Er lässt die "Iphigenie" zum Schutz um die Unglücksstelle kreisen und die "La Pomone" die Geretteten aufnehmen. Loerke fährt mit beiden Schiffen nach Toulon, wo er 148 Menschen dem Bürgermeister übergibt.
Darunter ist Pierre Giacobbi. Sein Sohn Michel kommt erst sieben Jahre später zur Welt. Doch er bekommt die Geschichte der Rettung später oft von seinem Vater erzählt. Wolfgang Loerke war vier Jahre alt, als sich das Unglück abspielte. Erfahren hat er davon erst Ende der 1950er Jahre. "Meine Eltern haben nicht über ihre Kriegserlebnisse gesprochen." So war es in vielen Familien. Doch dann wohnte ein Journalist eine Zeit lang bei der Familie Loerke. Er ließ sich vom "Alten", wie Konrad Loerke schon in jungen Jahren von seiner Mannschaft genannt wurde, alles über die Rettung erzählen.
Unter dem Pseudonym Eric Martin veröffentlichte er ein Buch darüber. Der Titel: "Merci, camarade!". Gleich auf einer der ersten Seiten ist ein Foto vom 19. Februar 1959 zu sehen. Es zeigt, wie der Admiralstabschef der französischen Marine, Henri Nomy, Konrad Loerke das Offizierskreuz der Ehrenlegion überreicht. Ein Deutscher in Uniform, der in Frankreich ausgezeichnet wird – das war in den 1950er Jahren eine Sensation. Auch vom Staatspräsidenten René Coty wurde Loerke in Uniform empfangen.
"Mein Vater hatte eine weiße Weste, solche Deutschen wurden nach dem Krieg gesucht", sagt Wolfgang Loerke. Der Vater wurde in Paris eingesetzt, war Mitgründer der geplanten, aber nie umgesetzten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG. Später wurde er berufen als Marineattachée an der deutschen Botschaft in Paris. Auch Giacobbis Vater war zu der Zeit Botschaftssekretär – in der französischen Botschaft in Bonn. Er erfuhr den Namen seines Retters, erstmals kamen die Männer in Kontakt.
Er sollte nicht abreißen: Es war der Beginn einer deutsch-französischen Bindung, die bis heute anhält. Wolfgang Loerke war nach seinem Studium als Kaufmann in Paris, seine erste Tochter ist in der französischen Hauptstadt geboren. Loerkes älteste Schwester ist mit einem französischen Marineoffizier verheiratet, lebt bei Versailles. Sie war 2003 auch bei der Beerdigung von Pierre Giacobbi.
"Die deutsch-französische Freundschaft war für uns etwas Selbstverständliches", sagt Wolfgang Loerke. "Egal, was auf höherer Ebene passiert – es passt zwischen Frankreich und Deutschland."
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